Hinweise zur Anwendung von Zählverfahren im Rahmen von Betriebsfestigkeitsuntersuchungen


Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF, Darmstadt

1. Das Problem

Bei Anwendung der aus der Literatur bekannten Zählverfahren [z.B. 1,2,3] im Rahmen von Betriebsfestigkeits-Untersuchungen (Lastannahmen, Basis für Vergleiche, Berechnung und Simulation) taucht immer wieder die Frage auf, welches der Verfahren denn nun am besten geeignet sei. Auch führt der Einfluss verschiedener Parameter auf die Zählergebnisse vielfach zu Anwendungsfehlern und Interpretationsproblemen.

2. Die Zählverfahren

Bild 1 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Zählverfahren zur Betriebsfestigkeits-relevanten Beschreibung von Beanspruchungs-Zeitfunktionen sowie ihre Zusammenhänge und Überschneidungen:

Abbildung 1: Übersicht und Zusammenhang ein- und zweiparametriger Zählverfahren, nach [4]

Als wichtigstes Verfahren hat sich heute die Bereichspaar-Mittelwert- bzw. Rainflow-Zählung durchgesetzt, aus deren Ergebnis (Rainflow-Matrix) auch die für die Praxis bedeutendsten einparametrigen Ergebnisse: Klassengrenzenüberschreitungen (level crossings) und Bereichspaare (range pairs) sowie die Ergebnisse der Spitzenzählung (peak counting) eindeutig ableitbar sind. Die Bereichs-Mittelwert-Zählung (Markov-Matrix der Spitzenwerte) enthält ebenfalls die Klassengrenzenüberschreitungen und Spitzen, aber anstelle der Bereichspaare die einfachen Bereiche (Spannen zwischen aufeinander folgenden Umkehrpunkten). Die Momentanwertfolge-Zählung (Instantaneous value sequence) enthält wiederum die Klassengrenzenüberschreitungen und zusätzliche Zeitinformationen in Form der Momentanwert- bzw. Verweildauer- Zählung (Dwell time counting). Zweiparametrige Zählverfahren enthalten grundsätzlich mehr Informationen als alle jeweils darin enthaltenen einparametrigen zusammen. Sind demnach die einparametrigen Verfahren überflüssig? Ein wesentlicher Nachteil der zweiparametrigen Verfahren ist die Schwierigkeit, Ergebnisse unmittelbar visuell zu vergleichen und zu bewerten. Die Beispiele in den Bildern 2 und 3 aus [5] sprechen für sich.

Abbildung 2: Rainflow-Matrizen von CARLOS vertical, für 5 Straßentypen (sw) und die gesamte Teilfolge (farbig)

Abbildung 3: Einparametrige Häufigkeitsverteilungen (Klassengrenzenüberschreitungen) von CARLOS vertical, für 5 Straßentypen und die gesamte Teilfolge

Darüber hinaus ist die Vereinheitlichung im Sinne von mathematisch beschreibbaren Einheitskollektiven [1] und die Extrapolation problematisch [6]. Auch sind die allen älteren Versuchsergebnissen zugrunde liegenden Lastfolgen ausschließlich durch einparametrige Verfahren dokumentiert und nur durch diese vergleich- und verwertbar. Aus diesen Gründen ist die Verwendung einparametriger Zählverfahren in der Praxis nach wie vor sinnvoll und weit verbreitet. Im Folgenden wird auf einige Eigenheiten der wichtigsten Zählverfahren (Rainflow, Level crossings, range pairs) hingewiesen, die beachtet werden müssen, um Fehlinterpretationen der Ergebnisse zu vermeiden - insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorhandensein kleiner Schwingspiele und veränderlicher Mittelwerte sowie dem Einfluss der Beanspruchungs-Reihenfolge.

3. Der Einfluss kleiner Schwingspiele

Am Beispiel der im Fahrbetrieb an einem Pkw-Vorderrad gemessenen Seitenkräfte (Abbildung 4) ist gezeigt, wie sich für Ermüdungsfragen vernachlässigbar kleine Schwingspiele (ca. 3% der Maximalamplitude) auf die Zählung der Klassengrenzenüberschreitungen und Bereichspaare auswirken. Gegenübergestellt sind Auswertungen -wie gemessen- / -mit Schwingspielunterdrückung unter 3% der Maximalamplitude- / mit künstlich überlagerten >Störschwingungen< (50 Hz, max. 3%, gaußverteilt). Die kleinen, häufigen Schwingspiele sind den Beanspruchungen aus Fahrmanövern überlagert und kommen daher auf allen Mittelwertniveaus vor. Dies führt zu häufigen Klassengrenzenüberschreitungen auf allen Beanspruchungsniveaus und somit zu Interpretationsproblemen. Die Bereichspaar- (und Rainflow-) Zählung zeigen demgegenüber nur Veränderungen, die der tatsächlichen Größe der weggelassenen bzw. hinzugefügten Schwingspiele entsprechen. Grundsätzlich sollten daher kleine Schwingspiele, die keinen nennenswerten Schädigungsbeitrag liefern (immer unter ca. 3...5%) vor der Zählung der Klassengrenzenüberschreitungen unterdrückt und parallel die Bereichspaarzählung zum Vergleich durchgeführt werden.

Abbildung 4: Einfluss kleiner Schwingspiele (oder Störungen) auf die Ergebnisse der Klassengrenzenüberschreitungs- und Bereichspaar- (Rainflow-) Zählung

4. Der Einfluss von Mittelwertänderungen

Mittelwertveränderungen in Beanspruchungs-Zeitfunktionen können echte Beanspruchungsänderungen oder auch messtechnisch bedingt sein (Drift). Die mögliche Auswirkung einer (künstlichen) Mittelwertverschiebung auf die Zählung der Klassengrenzenüberschreitungen und Bereichspaare (Rainflow-Zyklen) ist am gleichen Beispiel demonstriert, Abbildung 5. Durch eine kontinuierliche Mittelwertverschiebung werden die Beanspruchungsschwankungen und damit auch die Klassengrenzenüberschreitungen auf verschiedene Niveaus verteilt. Die Interpretation der resultierenden Häufigkeitsverteilung als Summenhäufigkeitsverteilung von Vollschwingspielen würde hier zu einer groben Überschätzung der wirklichen Beanspruchungsverhältnisse führen. Mit der Bereichspaarzählung, bei der die Mittelwertänderung nur als einmalige Beanspruchungsänderung in Erscheinung tritt, wird das Beanspruchungsgeschehen dagegen unterschätzt. Ein Vergleich der Ergebnisse der beiden einparametrigen Zählverfahren ist für die Interpretation hilfreich. Die korrekte Häufigkeits-Analyse von Beanspruchungs-Zeitfunktionen mit veränderlichen Mittelwerten ist nur durch die Rainflow-Zählung gewährleistet.

Abbildung 5: Einfluss von Mittelwertänderungen auf die Ergebnisse der Klassengrenzenüberschreitungs- und Bereichspaar- (Rainflow-) Zählung

5. Der Einfluss der Beanspruchungs-Reihenfolge

Zur leicht nachvollziehbaren Demonstration des Reihenfolge-Einflusses sind in Abbildung 6 vier Folgen derselben Belastungs-Ereignisse (24 positive, 24 negative) in unterschiedlicher Reihenfolge (Vermischung) gezeigt.

Abbildung 6: 48 Belastungsereignisse in unterschiedlicher Reihenfolge (Vermischung)

Die unterschiedliche Reihenfolge identischer Belastungsereignisse führt zu erheblichen Unterschieden in den entsprechenden Rainflow-Matrizen, s. Abbildung 7,

Abbildung 7: Rainflow-Matrizen der Ereignisfolgen mit unterschiedlicher Reihenfolge (Vermischung)

Während die Klassengrenzenüberschreitungs-Zählung in allen vier Fällen identische Ergebnisse liefert, zeigen die Bereichspaar- Verteilungen ebenso wie die Rainflow-Matrizen erhebliche Unterschiede, die dem Reihenfolge-bedingten, unterschiedlich häufigen Schließen großer und kleiner Belastungszyklen als schädigungsrelevanten Ereignissen Rechnung tragen, siehe Abb. 7 und 8. Die Reihenfolge-Empfindlichkeit der Rainflow- bzw. Bereichspaar- Zählung ist aber nur dann ein Vorteil, wenn die Reihenfolge der gemessenen und durch das Zählverfahren ausgewerteten Beanspruchungen auch tatsächlich betriebsnah ist. Andernfalls werden die Auswirkungen falscher oder unrealistischer Reihenfolgen im Zählergebnis fixiert und sind nicht mehr rückgängig zu machen (Direktklassierung). Ein gravierendes Problem der Reihenfolge-Empfindlichkeit ist, dass die Extrapolation der unterschiedlichen Matrizen und Bereichspaarverteilungen zwangsläufig zu unterschiedlichen Maximalwerten führen muss. Tatsächlich aber ist die (statistische) Entwicklung der Belastungs-Höchstwerte (bis zu einem physikalischen Grenzwert) nur abhängig von ihrer -bei allen Vermischungen identischen- Streuung und unabhängig von der Reihenfolge-bedingten Verknüpfung positiver und negativer Belastungsereignisse zu Beanspruchungs-Zyklen. Ein Lösungsvorschlag für das Extrapolationsproblem ist in [7] aufgezeigt.

Abbildung 8: Einfluss der Reihenfolge (Vermischung) auf die Klassengrenzen- und Bereichspaar- (Rainflow-) Verteilungen und ihre Extrapolation

6. Schlussfolgerungen

Aus den genannten Zusammenhängen ergeben sich die folgenden Empfehlungen für die Anwendung der drei wichtigsten Zählverfahren (Rainflow, level crossings, range pairs; auf weitere Verfahren für spezielle Anwendungen kann hier nicht eingegangen werden) : Grundsätzlich sollte die Rainflow-Zählung bevorzugt werden, da sie als einziges Verfahren die ermüdungsrelevanten Beanspruchungszyklen eindeutig nach Amplitude und Mittelwert beschreibt. Dabei ist aber zu beachten, dass die im Lastannahme-Prozess erforderlichen Schritte (Vermischung von Belastungsabschnitten, Extrapolation, usw.) nach Möglichkeit bereits vor der Rainflow-Zählung erfolgen sollten. Für die Anschaulichkeit und den unmittelbaren visuellen Vergleich von Zählergebnissen sind die einparametrigen Verfahren unverzichtbar. Da die Klassengrenzenüberschreitungen und Bereichspaare als Untermengen in der Rainflow-Matrix ohnehin enthalten sind, sind sie für Anschauungszwecke (Diskussionen, Berichte, usw.) jederzeit verfügbar. Für den Fall, dass die Schwingspiele in der ausgewerteten Beanspruchungs-Zeitfunktion unterschiedliche Mittelwerte aufweisen, muss allerdings von der unmittelbaren Benutzung dieser Verfahren als Grundlage für rechnerische Lebensdauerabschätzungen oder für die Ableitung von Steuersignalen für Betriebsfestigkeits-Versuche abgeraten werden.

7. Literaturauswahl

[1] Buxbaum, O.: Betriebsfestigkeit - Sichere und wirtschaftliche Bemessung schwingbruchgefährdeter Bauteile. Verlag Stahleisen, Düsseldorf (1992), 2. Aufl. Bezug durch Verlag Stahleisen mbH, Postfach 105164, 40042 Düsseldorf

[2] Westermann-Friedrich, A.; Zenner, H.: Zählverfahren zur Bildung von Kollektiven aus Zeitfunktionen - Vergleich der verschiedenen Verfahren und Beispiele - Institut für Hüttenmaschinen und Maschinelle Anlagentechnik der TU Clausthal, FVA-Merkblatt Nr. 0/14 (1988)

[3] de Jonge, J.B.: Counting Methods for the Analysis of Load Time Histories, NLR Memorandum SB-80-106 U (1980)

[4] Steinhilber, H.; Schütz, D.: Moderne Meß- und Auswertemethoden für Betriebsbelastungen. In: Betriebsfestigkeit: Lastannahmen - Lebensdauernachweis - Erfahrung in der Praxis. 14. Vortragsveranstaltung des DVM-Arbeitskreises Betriebsfestigkeit, 7./8. 9.1988 in Rüsselsheim. Hrsg. Deutscher Verband für Materialprüfung, Berlin (1988), Nachtrag, S. 5-18

[5] Schütz, D.; Klätschke, H.; Steinhilber, H.; Heuler, P.; Schütz, W.: Standardized Load Sequences for Car Wheel Suspension Components (Car Loading Standard) - CARLOS - Standardisierte Lastabläufe für Bauteile von PKW-Radaufhängungen, LBF-Bericht Nr. FB-191 (1990) / IABG-Bericht Nr. TF-2695 (1990)

[6] Klätschke, H.; Flade, D.: Extrapolation gleichzeitig wirkender, stochastischer Belastungsanteile aus unterschiedlichen Ursachen, LBF-Bericht Nr. 6823 (1993), unveröffentlicht

[7] Klätschke, H.; Schütz, D.: Das Simultanverfahren zur Extrapolation und Raffung von mehraxialen Belastungszeitfunktionen für Schwingfestigkeitsversuche. Materialwissenschaft und Werkstofftechnik 26 (1995) Nr. 8, S. 404-415